Der Aufrechte Gang Hinweis auf Moshe Feldenkrais

Wie man zum richtigen Denken und Tun, zum rechten Leben gelange durch geistliche Exerzitien, Betrachtungen, Versenkungen, durch allerlei rhythmische Techniken, durch weniges eher als durch vieles, durch beharrliches Fortschreiten in der einmal eingeschlagenen Richtung jedenfalls , darüber sind seit je Traktate und Anweisungen geschrieben worden. Manche haben weit über ihren Ursprungsbereich hinaus Bedeutung gewonnen; fast alle halten, was sie versprechen: wenn der Initiand eingestimmt ist und aus ihrem Geiste zu handeln versteht. Alle aber enttäuschen den, der ein objektives Verfahren, ein unfehlbares Rezept zu finden hofft. Das Wichtigste bleibt meist außer Acht: dass, wer den Erfolg meint, das Heil verfehlt, weil es kein anderes Ziel gibt als das in jedem einzelnen Schritt des Weges sich verwirklichende.

Die Welt sei absurd, sinnlos, heillos. Wir lesen’s, wir lassen’s uns sagen. Aber hören wir darum auf zu atmen, zu gehen, zu springen bisweilen? Meine Freiheit ist seit langem nur noch eine vorgespiegelte, versichert man mir. Aber ich kann mich doch bücken, wieder aufrichten, den Kopf drehen. Kann ich es aber wirklich? Es geschieht oft ungeschickt, anmutslos, unter Anstrengungen und Schmerzen. Offensichtlich benehme ich mich falsch. Wie es ändern? Wie sich bewegen, dass die Welt nicht zusammenfiele, wenn ich ihre Mitte wäre? Oder bescheidener: Wie sich selber, und damit andern, erfreulicher werden? Dazu bietet ein handliches, fassliches und jedem nützliches Buch einen Leitfaden: „Der aufrechte Gang“ von Moshé Feldenkrais (von Franz Wurm aus dem Englischen übersetzt). Ein Buch nicht für Fachleute, nicht für Gebildete, nicht für Sektierer, sondern für uns alle, die Laien und Brotesser.

„Wir handeln dem Bilde nach, das wir uns von uns machen.“ Mit diesem Satz beginnt das Buch. Davon wird hier ausgegangen: dass unser Tun eine Imitatio, ein Nachvollzug ist. Voraus geht ein Bild. Dieses Bild aber, und das ist das Entscheidende, machen wir selbst uns von uns selbst, von diesem unserem sich bewegenden, empfindenden, fühlenden und denkenden Wesen. Freilich, wenn wir das Buch nehmen und lesen, haben wir dieses Bild uns bereits seit langem gemacht, es so fix und fertig ausgebildet und auf seinen Thron über uns gesetzt, dass es wie ein Usurpator über uns Vergessliche herrscht. Da dieses Bild jedoch nicht aufhört veränderbar zu sein, so können wir, meint Feldenkrais, unseren Herrscher belehren; wie Kinder ihre Eltern, der Dichter seine Muse. Er ist ja nicht wir selbst, auch keine fremde unbeeinflussbare Macht, er ist Bild von unseren Gnaden. Und lenkt uns nach unserem Willen.

Genauer: nach unserer Willigkeit. Es gibt zwar beliebig viele willkürliche Bilder, die wir uns von uns machen können, aber nur ein einziges richtiges, mehr oder minder auf unsere Beschaffenheit zutreffendes, mit unserer Lage übereinstimmendes. Wir sind kein Fisch, kein Vogel, kein Engel; jeder nur ein Mensch, auf zwei Beinen, das Haupt gen Himmel gerichtet. Und wir kennen auch größtenteils die Gesetze, denen unsere Physis unterworfen ist; wir kennen sie, doch wir spüren sie nicht, wir sind ihrer nicht so inne, daß wir mit ihnen im Einklang lebten.

In Kleists berühmtem und vielzitiertem Aufsatz „Über das Marionettentheater“ ist davon die Rede, welche Unordnungen das Bewußtsein in der natürlichen Grazie des Menschen anrichte und daß nur, „wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist diese verlorene Anmut sich wieder einstelle”, so daß sie, „zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, so bei Kleist in dem Gliedermann, oder in dem Gott“. Zwischen diesen beiden Utopien, der vorgeschichtlichen des unerwachten und der endzeitlichen des totalen Bewusstseins, sucht Feldenkrais die menschliche Methode, indem er den Gliedermann, der wir durch unser Knochengerüst, unsere Muskeln und Bänder sind, ganz in die Vorstellung zu bekommen und von dieser her seine Bewegungen zu regieren unternimmt.

„L’imagination au pouvoir“ las man im Mai 1968 an einer Mauer der Sorbonne. Ob die hier beschworene Imagination den Sozialkörper zu lenken verstünde, mag dahingestellt sein. (Wessen Imagination? möchte man vor allem fragen.) Das aber ist nicht länger zu bezweifeln: In mir ist sie die „reine des facultés“ wie Baudelaire sie genannt hat, wenn man unter Einbildungskraft nicht nur erfindende Phantasie, sondern auch Beobachtungsgabe, Aufmerksamkeit Einfühlungsvermögen versteht und bedenkt, dass man selber ihr nächster Gegenstand, ihr Stoff und Wirkungsfeld ist. Die Gesellschaft ist eine Abstraktion, ein Mythologem manchmal, jedenfalls nicht wie die menschliche Person ein von sich selbst aus durchorganisiertes Ganzes; sie ist unübersichtlich, und eben aus ihrer Unübersichtlichkeit bezieht sie einen Teil ihrer Götzenmacht. Ich aber, jeder von uns, wir sind uns selber unsere Einrichtung, unser Funktionieren und können uns darüber Licht verschaffen; wir sind uns in die Hand gegeben: als ein Gliedermann, dessen wir uns nur deutlicher bewußt zu werden brauchen, auf dass er sich leichter, zweckmäßiger und anmutiger bewegen lerne.

„Innewerden“ nennt das Buch diese Art von Bewußtsein, das nicht im Kopf sitzt, sondern jeweils an der Stelle, wo wir uns bewegen (oder bewegen könnten). Und was sind das meist für Bewegungen, die hier in zwölf exemplarischen Lektionen zur Übung empfohlen werden? Die mühelosesten, geringsten, geschmeidigsten, die in der Folge das Erstaunliche bewirken. Rollen, Drehen, Kreisen, Schaukeln, Wiegen, Wippen, Schwingen, Schwenken; leichtes Strecken, Heben, Senken; einmal fließend, dann bis an einen vorgewählten Punkt gelenkt, mit anderen Bewegungen gleichgerichtet oder ihnen gegenlaufend; jetzt hinhorchend ausgeführt, dann wieder nach dem Vorbild der ausgeführten Bewegung nur vorgestellt (und desto wirkungsvoller). Alles ist einfach und freilich für den Ungeübten wie jedes Einfache schwer; aber man erfährt etwas und kann jede Erfahrung im Augenblick kontrollieren. Man erfährt sich als eine Wundermaschine aus lauter (fürs Erste materiellen, körperlichen) Hebeln, die unablässig einer auf den anderen wirken, darüber hinaus jedoch die Nerven, das Gehirn und so zuletzt unser Fühlen und Denken belehren.

Sind wir ein Bild? Wir sehen es nicht. Sind wir ein Wort? Wir vernehmen es nicht. Sind wir Lust? Wir fühlen sie nicht. Wir geben uns mit der Routine zufrieden, wo wir Virtuosen sein könnten. Wir verlangen das Außergewöhnliche, das in der Zukunft, hinter dem Monde liegt. Es heißt wohl in Hugo von Hofmannsthals „Traum von großer Magie“:

„Cherub und hoher Herr ist unser Geist
Wohnt nicht in uns, und in die obern Sterne
Setzt er den Stuhl und läßt uns viel verwaist.”

Zuletzt aber heißt es ebendort von diesem Geist, er lebe in mir „wie ich in meiner Hand“. Doch wer lebt schon in seiner Hand, in seinem linken dritten Zeh, seinem rechten Ohrläppchen? „Die Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte“, lautet ein allerjüngstes Evangelium, „wird nur dann möglich, wenn die ganze Welt aus den Angeln gehoben wird.” Feldenkrais will nicht mehr als uns die Angeln merken lassen, um die unsere wirklichen, nicht unsere eingebildeten Kräfte schwingen; aus denen heraus Türen sich auftun könnten in unsere eigene, jetzt beginnende Zukunft. Es sind nicht die Angeln der ganzen Welt, zu denen keiner einen Hebel besitzt; es sind unsere Knochen, Muskeln, Nerven; unser durchaus herrlich gestalteter Staub.

Neue Zürcher Zeitung, January 19, 1969
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Brief von Moshé Feldenkrais an Friedhelm Kemp

Tel-Aviv, January 28, 1969

Lieber Dr. Kemp,
soeben las ich Ihre Besprechung meines Buches „Der aufrechte Gang”. Der erste Gedanke, der mir bei der Lektüre kam, war der, daß ich Sie persönlich kennenlernen möchte. Es gibt nur wenige Menschen, die mich wirklich verstehen; außer Ihnen nur Professor Hugo Bergmann, Leiter der Philosophischen Faktultät der Universität Jerusalem, der sich mit dem wesentlichen Gehalt des in meinem Buch behandelten Themas beschäftigt und diesem einen Platz auf der Stufenleiter des wachsenden Menschengeistes anweist.
Wenn ich Ihnen darüber hinaus sage, daß ich die scharfsinnigen Nuancen und die elegante Leichtigkeit liebe, mit der Sie das Thema behandeln, das sich nicht mit kurzen Worten beschreiben läßt, so werden Sie verstehen, warum es mich drängt, Ihnen meine schrankenlose Bewunderung auszudrücken. Ich hätte Ihren Artikel gerne selber geschrieben .
In der Hoffnung, das Vergnügen zu haben, Ihnen die Hand zu drücken.

M. Feldenkrais
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Warum Nicht das Richtige?

Friedhelm Kemp

Gibt es eine Methode, sein körperliches, seelisches, geistiges Befinden und Verhalten ohne Anstrengungen, allein durch Aufmerksamkeit, zu verändern? Und zwar auf die Dauer, und dies auch noch im hohen Alter? Wie gesagt: durch Aufmerksamkeit; und freilich durch ein wenig Geduld mit sich, mit seinem Körper und dessen eingewöhnten Neigungen, sich unbeholfen, sich verkehrt zu benehmen. Wie verändert wie verbessert man sein meist, außer bei Schmerzen, nur obenhin wahrgenommenes Allgemeinbefinden zu einem durch Leichtigkeit, Wendigkeit, Mühelosigkeit gesteigerten Wohlgefühl? Wie gewahrt man, was als Lust auch, und recht eigentlich, erfahren werden könnte, wenn man sie nicht im Krampf, im Tempo, im Taumel, in der „Ekstase“ sucht?

Wie verwandelt man sich durch Lernen, durch Umlernen, nachholend, doch niemals zu spät, in einen für sich selber wie für andere erfreulicheren Zeitgenossen, mit dem Begleiteffekt, dadurch vielleicht auf bescheidene, unansehnliche Weise zur Verbesserung der „Verhältnisse“ beizutragen?

Ja, es gibt sie diese Methode; und eben nicht als Geheimlehre für Eingeweihte in teuren Dauerkursen am Fuß heiliger Berge, sondern jedermann in Schrift und Wort zugänglich. Um sie sich zunutze zu machen, genügt eine einzige Voraussetzung: daß man sich längere Zeit hindurch unterwirft; oder besser: daß man ihr folgt, daß man, indem man sich, was sie lehrt, bewusst macht, seiner selbst “inne wird” und bleibt. Das beginnt mit so wenigem, daß man geneigt sein könnte, solchen Unerheblichkeiten keine Bedeutung beizumessen; bis man merkt, und zwar sehr rasch schon, am eigenen Körper, welche unerwarteten Veränderungen kleine Schritte, einer nach dem andern, mehrfach und immer wieder wiederholt, bewirken; wie diese Veränderungen als Verbesserungen wahrgenommen und zu hilfreichen Gewohnheiten entwickelt werden können.

„Jede Wahrnehmung eines Dinges, jede Bewegung auf ein Ziel ist ein einzelner festgefügter Akt, und in jedem Akt sind Wahrnehmen und Bewegen fest verschränkt.” (Viktor von Weizäcker) Dieses „fest” ist jedoch modifizierbar, die Wahrnehmung kann intensiviert, die Verschränkung durch Wiederholung zugleich gelockert und gesteigert werden. Dadurch aber verändert sich zugleich die Qualität, der Tonus der Wahrnehmung. Und dies alles gewinnt eine erhöhte Bedeutung, wenn das wahrgenommene „Ding” der eigene Leib ist, den man gesteuerten wiederholten und durch die Wiederholung veränderten Bewegungen unterwirft. Dabei richtet die Aufmerksamkeit sich zuvorderst auf minimale Veränderungen. Am Wenigen verfeinert sich die Wahrnehmung. Jede verfeinerte Wahrnehmung, wenn sie den eigenen Körper betrifft, verändert dessen Verhalten, und durch das Verhalten schließlich ihn selber.

Habe ich meinen Leib? Bin ich mein Leib? Beide Fragen sind falsch gestellt. Wir sind uns immer auch als Leib gegeben, biologisch, physiologisch, physikalisch, chemisch; zugleich aber influieren, trainieren, schädigen wir diesen Leib. Wir traktieren, wir behandeln diese Gegebenheit, die uns ja nicht unabhängig von Welt, Umwelt gegeben ist und nicht ohne beständigen Austausch mit dieser. Leben heißt demnach leibhaft in der Welt sein, sich leibhaft in dieser Welt bewegen. Diese Welt können wir verändern, das tun wir unaufhörlich. Auch uns können wir verändern, durch Aufmerksamkeit, durch Übung, bei der kein Ende abzusehen ist; kein Ende der Korrektur, der Verbesserung; nicht auf Vollendung, auf Vollkommenheit, auf höhere Leistung, auf Rekorde hin, sondern auch Genauigkeit, Verfeinerung, Differenzierung. Die notwendigerweise auch zur Verlangsamung, zum Verweilen führen. Nur wenn ich nicht bereits anderswo bin, gelingt es mir vielleicht, bei mir zu sein.

Bin ich derart – unangestrengt, gelassen – bei mir, so entsteht eine Empfindung der Genüge, des Sich-selbst-Genügens, in die alles Geltenwollen hineinverschwindet. Das konstituiert sich als Selbst-Wahrnehmung, Selbst-Empfinden, Selbst-Bewegung: Leben in und durch sich selbst, als ein Höchstes. Als könnte einem nichts mehr zustoßen; als müsse man zu leuchten, zu klingen beginnen. Alles ist, wie es immer war, und ist doch durch diese „Innewerdung” anders; für die Dauer dieses veränderten Zustandes. Der wieder abklingen wird; und der, doch, erfahrungsgemäß, wiederholbar ist; in dieser Wiederholung wiedererkennbar, und jeweils zugleich neu. Das gesteigerte Neue, die überraschende Frische entspringen der wiederholten, zugleich geschärfteren und gelasseneren Aufmerksamkeit; auf das Unmerkliche als vielleicht das Wichtigste.

Vielleicht stellt sich dabei unter der Hand auch so etwas wie ein Verlangen nach Entwöhnungen ein. Diese müßten nicht durch Askese eingeübt werden. Wer des Richtigen an sich gewahr wird, in dem erwacht, fast wie von selber, die Neigung, dies oder jenes Unzuträgliche zu unterlassen; es entfällt. Die Aufmerksamkeit – eine gelassene, unangestrengte, ja gelegentlich leicht zerstreute Aufmerksamkeit – ist anderswo lustvoller beschäftigt. Womit? Nun, eben mit Lernen, in einem unaufhörlichen, zuletzt fast unbewußten Lernprozess, der mit dem Leben selber eins wird.

Manches würde sich ändern, manches sich erübrigen, wenn dieses Lernen und dadurch Sich-Verändern allgemeine Praxis würde; wenn wir Beholfenere würden – statt, nun ja, als unverbrüchlich auf eine einzige Ansicht und Lösung Eingeschworene mit verbissenem Eifer „Leistungen erbringen” zu wollen, die uns rasch Erfolg, mehr Geld, mehr Geltung gewährleisten sollen und bei denen es oft auf leere Zeitvergeudung, auf Virilios „rasenden Stillstand” hinausläuft: Wie viele Stunden vor dem Fernseher täglich? Wie viele übers Wochenende unterwegs nach Salzburg, nach Prag, nach Paris? Um was dort zu tun? Sehenswürdigkeiten mit erschöpften Blicken abzulaufen, bei kulinarischen Zauberkünstlern sich den Magen zu überladen...

Während man bei der erwähnten Methode kostenlos, mühelos, wie es dem Körper, dem Gemüt bekömmlich ist, sich beständig in Bewegung befindet. In einer Bewegung, die durch Achtsamkeit sich ändert, sich verbessert, sich genießt und, je gekonnter, je bewußter, schließlich unbewußt normales Verhalten wird.
Ist man der Förderung, die wir in Befolgung dieses „Du mußt dein Leben ändern!“ an uns erfahren, erst einmal inne geworden, dann freilich bemächtigen sich unser andere Kümmernisse, wenn man zusehen muß, wie unsere Kinder zur „Bewältigung des Lernstoffes”, wie die Studenten unserer Hochschulen zum Dauerlauf durch die Sekundärliteratur angehalten werden; wie mehr oder minder alle bei einem Ziel und Zweck anzulangen hoffen, ehe sie bei sich selber angekommen sind. Im „Kulturleben” wie im Sport: Leistungen, Resultate, Rekorde bitte! Rasch, frech, ordinär, absurd! Und diese Greuel dann, zu unserer Beschwichtigung, mit Besinnlichkeit, mit Esoterik garniert. Statt daß die Aufmerksamkeit darauf gerichtet wäre: Wie werde ich nicht alltäglich, grau, stumpf, abgemattet; sondern frisch, munter, bunt; „zum Erstaunen da”.

Dem Vernehmen nach steuern wir auf eine multimediale Informationsgesellschaft zu; eine Weltdatenbank wird in Aussicht gestellt; alles Wißbare liegt dort jederzeit bereit und kann, nach Bedürfnis oder Laune, jederzeit von jedem abgerufen werden. Potentiell dürfen wir uns allwissend und allmächtig vorkommen. Wir vergessen darüber, daß Daten und Fakten nur für den von Wert sind, der sie zu benützen und anzuwenden weiß. Ihr Wert liegt nicht in ihnen selbst, sondern in dem, was wir damit anfangen, wie wir damit umgehen. Fahren wir fort, uns selber unbekannt zu bleiben, werden wir insgesamt dümmer über uns selbst, so könnte diese Makrowelt der Information uns leicht über den Kopf wachsen und uns in Katastrophen stürzen, nach denen wir, ohne unsere Apparaturen und angesichts fortschwelender Atommeiler, hilfloser dastünden als ein vorzeitlicher Höhlenbewohner.

Wer sich umgetan hat, weiß schon, wovon hier die Rede ist. Von der Methode “Bewußtheit durch Bewegung”, die der 1984 verstorbene Moshé Feldenkrais in Jahrzehnten entwickelt und durch mehrere weitverbreitete Bücher zugänglich gemacht hat. Ein Wohltäter der Menschheit – durch eine Lehre, die keinen Glauben fordert, die jeder „Mystik“ abhold ist, die uns nichts lehren will als allein das, was wir lernend selber an uns, und über uns an der Welt, erfahren können. Die neuen, unsere späten Lehrer wollen uns nicht durch Offenbarungen blenden und überwältigen; sie verhelfen uns zu uns selbst, jedem zu dem Selbst, das er – und er allein – werden könnte; wenn wir uns nicht so fahrlässig dahinleben ließen. Wir alle mehr oder minder, jeder Tag für Tag; liebelos, ein Schädling seiner selbst und den anderen.
1995/1999

Friedhelm Kemp, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, geb. 1914 in Köln, lebt als Schriftsteller, Übersetzer und Komparatist in München.

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