Zu Dritt in Erwartung. Erzählte und reflektierte Praxis als Entwicklungsprozess

Abstract:

Diese Geschichtei handelt von Nadines Ankunft. Ihre Mutter, Karin Miller, eine Ärztin und Psychotherapeutin, nahm während ihrer Schwangerschaft und nach Nadines Geburt Einzelstunden in „Funktionaler Integration“(FI) bei Barbara Pieper, Feldenkrais-Lehrerin bei München. Die Stunden hat Barbara Pieper jeweils protokolliert (Teil 2). Karin Miller schrieb ihre Eindrücke am Schluss der FI - Serie auf (Teil 3). Dann tauschen beide ihre Notizen aus und kommentierten sie wechselseitig (Teil 4). Barbara Pieper stellt der Fallgeschichte einige Überlegungen voran zur Frage, ob und wie sich Feldenkrais-Stunden überhaupt notieren lassen (Teil 1). Abschließend blickt sie aus heutiger Erfahrung vergleichend und reflektierend auf die Serie von Einzelstunden zurück, um sich der Unterschiede in Arbeitsqualität und Können als Feldenkrais-Lehrerin bewusst zu werden. Fallgeschichten zu schreiben oder zu lesen betrachtet sie als ein vorzügliches Mittel reflektierter Praxis, um die eigene persönliche und professionelle Weiterentwicklung zu verfolgen (Teil 5).

Inhalt. 1) „Was schreibst du denn da auf und wozu?“ Vorbemerkung über das Notieren von Feldenkrais-Stunden. 2) Die Geschichte – erzählt aus der Sicht der Feldenkrais-Lehrerin. 3) Die Geschichte – erzählt aus der Sicht der Klientin. 4) Aus zwei Geschichten entsteht eine. 5) “Wie weiß ich, wie ich arbeite?“ Fallgeschichten als Mittel reflektierter Praxis zur persönlichen und professionellen Weiterentwicklung (Nachbemerkung)

Awaiting at Three. Narrate and Reflective Practise as Development Process

The story is about Nadine´s arrival. Her mother, Karin Miller, a physician and psychotherapist, took Feldenkrais private lessons in “Functional Integration” during her pregnancy and after delivery. Barbara Pieper, Feldenkrais practitioner near Munich, noted down these lessons (Part 2). Karin Miller compiled her impressions of the lessons at the end of the Series (Part 3). Then, practitioner and client exchanged their notes and commented on them (Part 4). Preceding the case study, Barbara Pieper reflects on if and how Feldenkrais lessons can be written down at all (Part 1). She also looks back to the series comparing and reflecting the lessons with her today’s experience in terms of becoming aware of quality differences in practising and of competency as a Feldenkrais professional. For her writing case stories and reading them is an ideal tool of reflective practise while pursuing and furthering private and professional development (Part 5).

Content: 1) "What are you writing and why?" Prologue: Introductory note on Feldenkrais lessons´ notation. 2) The case story - narrated by the Feldenkrais practitioner. 3) The case story - narrated by the Client. 4) Merging two stories into one. 5) Epilogue: "How do I know how I am working?" - Case studies as a tool of reflective practise for personal and professional development

Updated version January 2009. First published in Uta Rue & Sylvia Weisse (Editors): Zuerst bin ich im Kpf gegangen & andere Feldenkrais-Geschichten (At first I walked in my mind & other Feldenkrais stories), Loeper Verlag, Karlsruhe, April 2007, pp. 192-216. Contact Barbara Pieper, Dr.rer.pol., Social Scientist, Feldenkrais Practitioner, maintains a private practice near Munich/Germany. Feldenkrais Assistant Trainer, mail [at] barbarapieper [dot] de ;www.barbarapieper.de and www.somatische-bildung.de Karin Miller, Dr. med., Physician und Psychotherapist, lives with her family in the countryside of Upper Bavaria/Germany where she maintains a private practise. Her name was changed for this publication to ensure her privacy as client. Contact via Barbara Pieper

Erstmals erschienen in: Uta Ruge & Sylvia Weise (Hrsg.): Zuerst bin ich im Kopf gegangen & andere Feldenkrais-Geschichten, von Loeper Verlag, Karlsruhe, April 2007, S. 192 – 216;

hier aktualisierte zweite Fassung, Januar 2009

Barbara Pieper, Karin Miller

Zu Dritt in Erwartung.

Erzählte und reflektierte Praxis als Entwicklungsprozess1

 

1. „Was schreibst du denn da auf und wozu?“ Vorbemerkung über das Notieren von Feldenkrais - Stunden

Jede Einzelstunde ist für mich eine kleine Welt für sich. Während der Stunde richte ich meine Aufmerksamkeit auf verschiedene Zugänge und Blickwinkel dessen, was geschieht und wie es geschieht. Damit wird die Stunde bereits geprägt oder „getönt“ von der Art und Weise, wie ich sie wahrnehme. Die Stunde anschließend zu notieren, verändert das Geschehen ein weiteres Mal. Mit dem Aufschreiben findet also immer auch eine Verwandlung der Stunden statt. Es entsteht daraus eine neue Wirklichkeit.

Die Verwandlung, wie sie im Zuge des Aufschreibens geschieht, halte ich für unvermeidlich. Um damit umzugehen und sie mir deutlich(er) zu machen, hebe ich zuweilen einen bestimmten Aspekt besonders hervor, um den es mir in der Geschichte geht. Diesen Fokus erwähne ich zu Beginn der Geschichte, so dass die Leser/innen ihre eigene Sicht zu meiner Darstellung hinzufügen können.

Beim Schreiben von Fallgeschichten fällt mir immer wieder Gaby Yaron ein, pädagogische Direktorin meiner Feldenkrais-Ausbildung München II: „Was, du machst dir Notizen nach einer FI! Was schreibst Du denn auf? Das Wesentliche der Stunde lässt sich doch gar nicht in Worte fassen! Und was an der Stunde wirklich wichtig war, wirst du sowieso erinnern.“ Gaby Yaron hatte recht. Das Wesentliche einer Stunde geschieht zwischen dem Klienten und mir und im Inneren der beteiligten Personen. Feldenkrais-Lehrer/innen benutzen Worte wie Nervensystem, Skelett, Lernen, Bewusstheit im Bemühen, dass diese Worte beitragen können zu beschreiben, was in der Stunde geschieht und wie es geschieht, ohne damit behaupten zu wollen, sie wüssten auch schon, warum.

Wenn in mich während der FI-Stunde in Beziehung zur Klientin empfinde, der Kontakt also hergestellt ist, und ich wahrnehme, wie die Klientin achtsam und aufmerksam in sich hineinlauscht, dann vermute ich, dass sie auf dem Weg über Bewegung mit dem inneren Kern ihrer Persönlichkeit beschäftigt ist. Ob wir dafür nun das Wort Seele verwenden oder ein anderes, um diese Voraussetzungen für „Bewusstheit durch Bewegung“, mitteilbar zu machen, möge jeder für sich selber entscheiden. Ich zumindest kann diese Dimensionen meiner Arbeit allenfalls zwischen den Zeilen beschreiben.2

Mit dieser Fallgeschichte habe ich versucht, den Blickwinkel auf die Welt der Einzelstunde zu erweitern: ich bat die Klientin, ihre Erfahrungen ebenfalls zu notieren. Die eigene Wahrnehmung und die Wahrnehmung der anderen Person zur gleichen Begebenheit kennen zu lernen, ermöglicht nicht nur einen sehr aufschlussreichen Vergleich von Erfahrungen3 . Die Personen bleiben auch beide Subjekte ihrer Geschichte und dies umso mehr, als Frau Miller und ich beim Schreiben wussten, dass wir unsere Berichte austauschen und kommentieren würden. Damit kommt die Feldenkrais-spezifische Vorgehensweise eher zur Geltung, denn es geht hier um einen an der Person orientierten oder subjektorientierten Ansatz 4.

Worauf kam es mir in dieser Fallgeschichte an (Fokus)?

(1) Die Arbeit mit Frau Miller stellte für mich eine Brücke her zwischen meiner jetzigen Arbeit als Feldenkrais-Lehrerin und meinem Einstieg in die Feldenkrais-Methode: Als ich 1980 anfing Einzelstunden zu nehmen, war ich selber schwanger. Es freute mich, nun Erfahrungen weitergeben zu können, die ich zunächst als Klientin und ab 1989 auch in einem professionellen Rahmen habe machen können.

(2) Mit Schwangeren zu arbeiten leitet mich dazu an, aufs Neue zu berücksichtigen, was ich mir auch in einer weniger komplexen Beziehungssituation als der zu Dritt immer wieder vornehme: Weniger anzubieten als mir auffällt und einfällt; mich anzupassen an jeweilige neu auftauchende Umstände im Verlauf der Stunde; auftauchende Gefühle von Unsicherheit wahrzunehmen, sie dann aber zur Seite zu legen und der Lernfähigkeit und -Bereitschaft des Nervensystems zu vertrauen. Die Fallgeschichte beschreibt, wie ich mit diesen Herausforderungen jeweils zurechtgekommen bin.

(3) Eine Dreierkonstellation wie diese (Frau Miller, ihr Baby und ich) bringt es mit sich, dass ich mich noch sorgfältiger als sonst mit den Beziehungsaspekten meiner Arbeit befasse – mit meinen eigenen Erwartungen, Erfahrungen, Hoffnungen, Befürchtungen, wohl wissend dass all das eingeht in meine Wahrnehmung und in mein Verständnis der Situation, in der ich mich befinde, während ich die Einzelstunde gebe.

Dank Frau Millers Bereitschaft zur „Gemeinschaftsproduktion“ können wir nun diesen Bericht als ein, wie wir finden, schönes Experiment vorstellen, wie zwei bzw. sogar drei miteinander in Beziehung stehende Subjekte zusammenarbeiten, lernen und ihre jeweilige Konstruktion von Wirklichkeit zu einer neuen umgestalten und diese mitteilen.

2. Die Geschichte – erzählt aus der Sicht der Feldenkrais-Lehrerin

Frau Miller, eine charmante attraktive Frau Ende 30, nahm an einem der fünftägigen Feldenkrais-Workshops in „Bewusstheit durch Bewegung“ teil, den ich seit einigen Jahren im Rahmen der „Lindauer Psychotherapie Wochen“ gebe. Dieser Kongress richtet sich an Ärzte und Psychotherapeuten und findet alljährlich im April am Bodensee statt. Frau Miller hat den Kurs aus Neugier belegt und um die Methode einmal kennen zu lernen, da sie davon gehört hatte und wissen wollte, für welche ihrer Psychotherapie-PatientInnen die Methode empfehlenswert sein würde.

Wie überrascht war Frau Miller jedoch, als sie während des Kurses entdeckte, dass sie wenig über ihre sensomotorische Eigenwahrnehmung und ihr kinästhetisches Selbstbild wusste: „Ich bin immerhin Ärztin und langjährige Psychotherapeutin. Ich habe viele Fortbildungen zur Selbsterfahrung gemacht“, sagte sie, „meinen Körper fühle ich trotzdem ziemlich wenig und weiß auch nicht so recht, wie ich ihn benutze.“ Damit war sie unter den Kursteilnehmern keineswegs allein. Sie nahm sich vor, in München, wo sie damals wohnte, Einzelstunden bei mir zu nehmen. Aber irgendwie fand sie dann doch nicht die Zeit dazu. Stattdessen nahm sie an einem meiner Feldenkrais-Samstags-Kurse teil.

Ein Jahr später, im Herbst 1997, rief sie mich an: „Erinnern Sie sich an mich? Ich bin diejenige, die immer Einzelstunden nehmen wollte und dann doch nicht erschien. Stellen Sie sich vor, ich bin schwanger! Können Sie mir raten, zu Ihrem nächsten Samstagskurs zu kommen und nun endlich auch Einzelstunden zu nehmen?“ „Sicher, warum denn nicht?“ Sie war beunruhigt, denn ihr Frauenarzt hatte ihr gesagt, ihr Baby sei für sein Alter ziemlich klein – sie erwartete ein Mädchen – und bewege sich nicht genug. „Ich könnte eigentlich selber ein bisschen Bewegung gebrauchen“, sagte sie. Ich erzählte ihr, dass ich selber während meiner zweiten Schwangerschaft mit Vergnügen Einzelstunden genommen hätte und mich darauf freute, mit ihr zu arbeiten.

Ich möchte gleich an dieser Stelle erwähnen und dann später im Einzelnen auf Folgendes zurückkommen: Weit mehr als in FIs zu zweit waren die Einzelstunden mit Karin Miller eine vorzügliche Gelegenheit für mich aufs Neue zu erleben, wie umfassend und unvermeidlich meine eigenen Erfahrungen, Absichten, Empfindungen, Gefühle und Gedanken mir als Folie dienen. Sie sind mal mehr, mal weniger unbewusst Bestandteil dessen, was ich in der Stunde anbiete und wie ich das tue. Mir nach der Stunde Notizen zu machen, ist eine meiner Strategien, um meine eigenen „blinden Flecken“ herauszufinden und sozusagen hinter meine eigene Bühne zu schauen: „Bewusstheit durch Notieren“.

Frau Miller kam also zum Samstagskurs. Mir fiel auf, dass sie gut für sich sorgte. Sie legte mehrere kleine Pausen ein und freute sich, wie sich ihre Bewegungsfähigkeiten im Verlauf des Tages erweiterten. So konnte sie wieder leichter vom Boden aufstehen und viel besser sitzen. Wir verabredeten eine Serie von 6 Stunden bis zur Entbindung (Termin war Anfang Januar 1998). Eine Stunde konnte sie wegen eines Schneesturmes nicht wahrnehmen.

Erste Einzelstunde (Ende Oktober 1997)

Zu Beginn der Einzelstunden war Frau Miller inzwischen in der 30. Schwangerschaftswoche. Sie erzählte, dass sich ihr Baby jetzt wieder entwicklungsgerecht bewege. „Am Montag nach dem Samstagskurs waren meine Kollegen ganz überrascht: du siehst ja jetzt endlich richtig schwanger aus!! Wie kommt das denn?“. „Ich finde übrigens auch“, ergänzte Frau Miller, „dass mein Bauch jetzt eine viel angenehmere Position gefunden hat“. Sie sah schön und stolz aus und ich fühlte mich erinnert an meine eigenen Gefühle vor 17 Jahren. Wie gerne war ich schwanger gewesen!

Wir konzentrierten uns zunächst darauf zu erkunden, wie sie ihre Balance im Sitzen fand. Als Therapeutin musste sie den ganzen Tag weitgehend sitzen. Sie fühlte, sie säße zu weit nach rechts. Während ich ihren Rücken tastend erkundete, fielen mir Hinweise von Gaby Yaron ein, während sie einer Schwangeren eine Einzelstunde im Rahmen einer Fortbildung gab: Nicht zuviel tun; das Becken eher in Ruhe lassen; dafür sorgen, dass das Baby mehr Platz hat.

Ich bat Frau Miller, sich auf die rechte Seite zu legen, da sie hier am bequemsten liegen konnte. Ich bot ihr eine Bewegungsabfolge an, über die sie die Bewegungszusammenhänge ihres Kopfes mit ihren Schultern, ihrer Wirbelsäule, ihrem Becken bis zu ihren Beinen wahrnehmen konnte, während ich sie ein wenig (aus ihrer Sicht) nach rechts (vorwärts) und zurück und nach links (rückwärts) rollte und zurück in die Ausgangs-(Seiten-)lage. Zunächst versuchte ich herauszufinden, inwieweit sie darauf eingestellt war, dass sich ihr Kopf, ihre Schultern, Becken und Beine möglichst gleichzeitig rollen ließen. Das nennen wir in der Feldenkrais-Fachsprache, eine Bewegung global auszuführen. Ein wenig später probierten wir aus, inwieweit sich das Rollen unterschiedlich anfühlte, wenn ich die Bewegung zunächst von Frau Millers Schultern, dann von ihrem Becken aus anfangen ließ (oder umgekehrt). Die Schulter- und Beckenbewegungen erfolgen hier also nicht gleichzeitig und nicht in derselben Richtung. Deshalb wird dieses Bewegungsangebot auch als differenzierte Bewegung bezeichnet. Frau Miller lauscht in sich hinein: „Mein Baby fängt zu hüpfen an“. sagte sie

Damals, in der ersten Stunde, konnte ich die Kindsbewegungen noch nicht gleich selber bemerken. Ich war offenbar noch zu sehr dem Denken in einem Zwei-Personen Setting verhaftet, wie das sonst bei Einzelstunden der Fall ist.

Nach einer kleinen Pause, in der sich Frau Miller auf den Rücken gelegt hatte, probierten wir das Rollen in der zweiten Seitenlage aus. Die Unterscheidung von globalem und differenziertem Rollen empfand sie jetzt viel rascher heraus als auf der ersten Seite. Sie war überrascht und erleichtert; denn eigentlich konnte sie sonst gar nicht mehr gut auf der linken Seite liegen. Um die Stunde abzuschließen, bat ich sie, sich wieder in die Rückenlage zu begeben. Ich legte ihre Arme überkreuz auf ihren Brustkorb, rollte und schaukelte sie dann ein wenig nach rechts und links, wobei ich die Bewegungen mal von ihren Schultern, mal von ihren Ellbogen, ihren Händen, oder ihren Rippenbögen begann. Frau Miller genoss sichtlich, wie die beiden Seiten ihres Körpers beim Rollen zusammen arbeiteten – zuerst im Liegen und dann auch im Sitzen. Ich begleitete dabei ihre Kopfbewegungen mit meinen Händen. So konnte sie leichter fühlen, wie ihr Kopf und ihr Becken zusammen spielten, wenn sie sich umdrehen wollte. Dann stand sie auf und staunte, wie viel besser sie sich beim Gehen ausbalancierte. Ihr rechtes Bein fühlte sich weniger schwer an als zu Beginn der Stunde. „Schauen Sie sich einmal meinen Bauch an! Ich sehe jetzt ja noch schwangerer aus! Wie kann das denn sein? Das sind ja seltsame Effekte! Sie haben mich doch nur ein wenig hin und her gerollt“!

Ich fühlte mich darin bestätigt, nicht viel an Bewegung anzubieten; als Schwangere war Frau Miller zusätzlich sensibilisiert. So hatte ich bemerkt, dass sie inzwischen sehr kleine Signale in ihr Selbstbild aufnehmen konnte. Ich nahm mir vor, ihre Aufmerksamkeit in der nächsten Stunde darauf zu lenken, wie sie die Beziehung ihrer Rippen zu ihrem Kopf gestaltete.

Zweite Stunde (ca. 3 Wochen später)

“Nadine wächst. Sie ist jetzt im unteren Bereich der Körpergröße, die sie haben sollte.“ Zum ersten Mal erwähnte sie den Namen ihres Babys. Sie fragte mich, ob ich vorzeitig entbunden hätte. Das hatte ich nicht. Ob sie sich Sorgen vor einer Frühgeburt machte, zumal ihr gesagt worden war, dass sich ihr Baby bereits reichlich nah am Ausgang befände? Ich erinnerte mich an ähnliche Befürchtungen, als ich 1980 Einzelstunden nahm und damals noch nicht so recht verstand, was in den Stunden vorging. Ich versicherte ihr, dass die Stunden keine Gefahr für sie sein würden, solange sie und ich mit Achtsamkeit vorgingen.

Frau Miller saß jetzt mehr auf ihrer linken Seite. Sie hätte sonst nicht genug Platz für ihr Baby, meinte sie. Während ihrer psychotherapeutischen Arbeit musste sie nach wie vor fast den ganzen Tag sitzen. Ich begann die Stunde, indem wir im Sitzen und Gehen erkundeten, wie sie ihre Beine im Zusammenspiel mit Rumpf und Kopf gebrauchte und ließ sie einige Variationen ausprobieren, zum Beispiel die Größe der Schritte ändern oder den Kopf beim Gehen über einer Körperhälfte belassen. So konnte sie herausfinden, welche Bewegungsweise beim Sitzen und Gehen sich für sie gewohnt anfühlte und welche nicht.

Frau Miller wollte wieder auf der rechte Seite liegen. Ich tastete mit meinen Händen den Übergang ihres Halses zum Brustkorb entlang, damit sie diesen Bereich (siebter Halswirbel, erster Brustwirbel) zunächst einmal spüren konnte. Dann begann ich, ihre obere Brustwirbelsäule von deren rechter Seite aus ein wenig zu stützen in der Absicht (und Annahme), Frau Miller könnte auf diese Weise eine Entlastung spüren, indem ich ihr einen Teil ihrer Anstrengung abnahm, mit der sie ihren Kopf meinte tragen zu müssen. Sie erzählte, dass Nadine auf der Stelle anfing sich zu bewegen. Ohnehin war mir aufgefallen, dass Frau Miller sich unablässig in einem inneren Dialog mit ihrem Baby befand. Ich betrachtete diese Interaktion als ihre, nicht als meine. Nach und nach verfolgte ich mit ihr, wie sich ihre Rippen zunächst im Zusammenspiel mit ihrer Wirbelsäule, ihren Schultern bis zu ihren Fingerspitzen und dann mit ihrem Becken und schließlich ihren Beinen bewegen konnten (oder nicht), während ich ihren Arm in verschiedene Richtungen geleitete – Bewegungen, die sie sie in ihrem Alltag auch ausführte; aber auch solche, die sie (zu ihrem Erstaunen) noch nicht kannte. „Das erinnert mich an die Audiokassetten von Beatriz Walterspiel5 “, sagte sie, „ die mache ich zu Hause, vor allem die Schulteruhr (Lektion 3), aber jetzt empfinde ich die Bewegungen durch die Berührung und das Geleitet-werden viel deutlicher und tiefer“.

 

Ich brachte Frau Miller vom Liegen ins Sitzen. Sie saß jetzt mehr auf ihrer rechten Seite als zuvor, empfand ihre linke Seite als länger. Ihre Beine konnte sie müheloser bewegen als zu Beginn der Stunde. Ich bat sie herauszufinden, wie sie im Sitzen mit ihrem Becken kreisförmige Bewegungen machen könnte, so als würde ihr Becken Kreise auf die Feldenkrais-Liege malen, auf der sie saß . Dann schlug ich ihr vor, sich einen langen Pinsel vorzustellen, der an ihrem Schädeldach angebracht wäre und ihr ermöglichte, Kreise an die Zimmerdecke zu malen. Schließlich wechselte sie die beiden Bewegungen ab: mal malte sie Kreise mit ihrem Becken auf der Sitzfläche und dann mit dem „Kopfpinsel“ an der Zimmerdecke. So konnte sie, wie schon in vorherigen Stunden, die Beziehung von Kopf und Becken erfahren und ihre Orientierung im Raum verbessern.

Als sie aufstand, stand sie weit aufrechter als je zuvor. Wir mussten beide lachen: So anders war die Gestalt ihres Bauches. Ich empfahl ihr, sich weiterhin mit der „Schulteruhr“ zu beschäftigen und die „Beckenuhr-Lektion“ der Audiokassette eher in der Vorstellung zu machen. Für die nächste Stunde nahm ich mir vor mit ihr herauszufinden, wie sie sich selbst einfacher aufsetzen konnte. Ich erinnerte mich, dass ich als Schwangere Leute verblüfft hatte, wenn ich ohne Mühe mich hinsetzen, aufstehen, drehen konnte. Das war offenbar im Repertoire vor allem von Hochschwangeren nicht vorgesehen.

Dritte Stunde ( eine Woche später, Ende November 1997)

Frau Miller geht es gut. Wir plaudern ein wenig. Sie erzählt von einem Schamanen aus Wien, der mit Tönen arbeite. Das ist eine erstaunlicher Zufall: Ich beschäftigte mich seit einiger mit Stimme und Tönen. Gerade erst hatte ich wieder einmal an einem Workshop mit meinem Kollegen Franziskus Rohmert „Feldenkrais und Stimme“6 teilgenommen. „Machen wir also heute eine Stunde mit Tönen“ schlug ich vor.

Ich stelle mich hinter sie und fange an, in Richtung ihres Rückens zu singen. „Können Sie die Vibration der Töne spüren, die ich singe? Inwieweit kommt die Vibration der Töne bei Ihren Rücken an? „Keine Ahnung!“ antwortet sie. Ich vermute, dass sie die Vibration der Töne eher von inner her spüren könnte. Also fordere ich sie auf, sie möge nun ihrerseits einen Ton singen und auf dessen Vibration achten. Dabei berühre ich ihre Schulterblätter und ihre Rippen, um ihre innere Wahrnehmung von außen zu unterstützen. Viel fühlt sie nicht. „Es ist ganz schön schwer, einen Ton zu machen und dann auch noch dessen Vibration zu fühlen“, sagt sie.

„Und wie ist es im Liegen?“ Ich bitte sie, sich auf die rechte Seite zu legen und Töne zu produzieren – egal welche, die, die auftauchen. Ich nehme mir vor, mit ihr eine ganz einfache klassische Stunde zu machen, in der sie – allerdings während sie die Töne macht – erkunden kann, wie sie sich in Seitenlage ein wenig leichter zur Seite neigen kann, als sie es sonst tut. Dann versuchen wir beide zu unterscheiden, wann und wie sich ihre Töne während der Bewegungen verändern. (Das war eine der Erfahrungen, die Franziskus Rohmert in seinem Workshop hatte erkunden lassen). „Nadine hat das gerne!, sagte Frau Miller. “Ich sollte öfter singen.

Wieder auf dem Rücken liegend findet sie, dass sie flacher liegt. Ihren Kopf, ihre Wirbelsäule, Becken und Beine nimmt sie jetzt mehr in Beziehung zueinander war. Vor allem aber hat sich ihr Bauch, wie sie sagt, mehr „verteilt“. Beim Singen empfindet sie jetzt die Vibration in ihrem Körper, sei es, dass sie singt oder ich singe wie anfangs hinter ihr stehend in Richtung ihres Rückens singe. „ Ich habe jetzt ein ganz neues Bild von meinen inneren Räumen“, stellt sie fest.

Später beim Notieren und auch in den nächsten Stunden merkte ich, wie diese Stunde eine Tür geöffnet hatte: Ich fühlte mich seit diesem Schlüsselerlebnis jetzt auch mit Nadine in Kontakt. Die FI-Stunden hatten die ganze Zeit über zu Dritt stattgefunden. Aber erst jetzt empfand ich es auch so. Es dauerte noch eine Weile, bis ich verstand, dass (und wie!) Nadine die Hauptperson in den Stunden war. Und endlich las ich Alfred Tomatis’ Buch über die Bedeutung des Klangs in der vorgeburtlichen Kommunikation von Mutter und Kind7

Vierte Stunde (Anfang Dezember 1997)

Frau Miller berichtete, dass ihr Baby nicht mehr zu nah am Ausgang läge. Die Spannungen in ihrem unteren Rücken hätten sich gelegt. Dazu beigetragen hätte auch, dass sie die Audiokassetten von Beatriz Walterspiel verwendete; meistens machte sie die Lektionen in der Vorstellung. Ich freute mich, wie sie Feldenkrais-Lektionen in ihr Leben einbaute. Sie käme allerdings, sagte sie, nicht so recht klar mit der Audiokassetten-Lektion „Vom Liegen zum Sitzen“ und wäre heute daran interessiert, ihre Wirbelsäule besser zu spüren. Ich nahm mir vor, die Stunde so anzulegen, dass sie sowohl leichter würde aufsitzen können als auch sich ein deutlicheres Bild machen könnte, wie sie ihre Wirbelsäule im Zuge ihrer derzeitigen Bewegungsorganisation einen Monat vor Geburtstermin benutzte.

Ich bat sie zunächst, sich vor eine zu Wand stellen, zu ihrer Sicherheit beide Hände an die Wand zu legen und dann ihren rechten Fuß längs auf eine Holzrolle zu platzieren (6 cm Durchmesser, 40 cm lang), ihre linke Ferse abzuheben vom Boden, sich also mehr auf ihren linken Vorderfuß zu verlagern, sodass sie mit ihrem rechten Fuß voll auf der Holzrolle zu stehen kam. Hierbei verlagerte sich auch ihr Körpergewicht. Sie konnte deutlich die Kraftübertragung vor allem vom rechten Fuß bis nach oben zum Kopf spüren. Sie stieg von der Rolle wieder herunter, macht eine Pause, ging ein wenig im Raum herum und staunte, wie unterschiedlich sie jetzt die beiden Seiten ihres Köpers benutze. Zurück zur Holzrolle, nun umgekehrt mit dem linken Fuß auf der Rolle, fühlte sich die linke Seite eher wackelig an. Sie suchte einige Zeit nach einem geeigneten Platz für den linken Fuß. Die Übertragung der Bewegung, die sie rechts als belebenden Schub durch ihre Wirbelsäulen empfunden hatte, stellte sich auf der linken Seite nicht her.

Ich legte eine Decke auf den Boden, bat sie also dieses Mal nicht auf die Feldenkrais-Liege, damit sie später mehr Platz haben würde, um vom Liegen auf dem Boden ins Sitzen zu gelangen. Ich führte sie durch eine Abfolge von Bewegungsexperimenten, zunächst „hands-on“ (ohne Worte) und schließlich (wie in den Gruppenstunden) nun auch mit Worten, bis sie selbst und zu ihrer Überraschung sogar auch über ihre linke Seite sich aufsetzen konnte. Ich verwendete dabei den Bewegungsaufbau der Audiokassette, die sie zuhause hatte. Allerdings benutze ich andere Worte und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Bereiche ihres Körpers, die sie ohne Mühe in der Bewegungsabfolge einzusetzen vermochte. Meine Idee dabei war, dass Frau Miller die Audiokassetten nicht unbedingt wieder erkennen sollte; sich ihre Befürchtung und Erfahrung mit dem Aufsitzen also gar nicht erst einstellen konnten.

Zurück zum Stehen auf der Holzrolle empfand sie jetzt deutlicher, dass und wie sich beim Bewegungsschub vom Fuß zum Kopf nunmehr auch ihre Rippen und vor allem ihre Brustwirbelsäule beteiligten, Dieser Bereich hatte sich jetzt in das Bild (und den Gebrauch!) ihrer Wirbelsäule eingefügt. Sie empfand Zutrauen in ihr Gleichgewicht, als sie sich mit dem linken Fuß auf die Rolle stellte, auf den rechten Vorderfuß abstützte, und nun den Schub vom Fuß zum Kopf auch über die linke Seite wahrnehmen und genießen konnte. Sie ging nach Hause, frohgemut, hochschwanger wie sie war, weiterhin so beweglich zu sein und – mindestens so wichtig – sich selber helfen zu können. Dieses Mal nahm ich mir nichts für die nächste Stunde vor.

Fünfte Stunde (Zwei Wochen später)

Ein Problem ist aufgetaucht: Frau Miller hat Mühe im Sitzen. Eine äußerst schmerzhafte Hämorrhoide setzt ihr zu. Sie war nicht so sicher, ob Feldenkrais hierzu etwas anzubieten hätte. Ich erinnerte geschwollene Beckenvenen in meiner Schwangerschaft und die deutliche Erleichterung jeweils nach Feldenkrais-Einzelstunden.

Ich versuchte also herauszufinden, ob es möglich wäre, dass sich der Druck in ihrem Becken verringerte, indem ich mich auf die Suche nach „Extra-Anstrengung“ der Muskeln machte – nicht nur in ihrem Becken, auch sonst im Körper. Meine Absicht dabei war, ihr diese zusätzliche, für sie nicht steuerbare (Extra-)Arbeit der Muskeln für eine kleine Weile „abzunehmen“. So nennen wir in der Feldenkrais-Fachsprache eine Vorgehensweise, bei der der Klient den Unterschied an Anstrengung fühlen kann. Eine Gelegenheit zur Unterscheidung erhält der Klienten zum Beispiel dann, wenn der Feldenkrais-Lehrer des Klienten Bein (möglichst) so hebt, wie es der Klient für gewöhnlich tut; oder wenn der Klient sein Bein vom Feldenkrais-Lehrer beim Anheben als unterstützt und damit als getragen empfindet, der Klient also Unterschiede in der jeweils aufgewendeten Muskelarbeit wahrnehmen kann.

Aufmerksam verfolgte Frau Miller, wie ich jetzt versuchte, ihr rechtes Bein ein wenig anzuheben und dabei darauf achtete, meine eigene Bewegungsorganisation und eingesetzte Muskelarbeit so zu dosieren, dass sie (und ich!) spüren konnte(n), wie aufwendig es für sie war (und mich!), ihr Bein in der ihr gewohnten Weise anzuheben. Dann variierte ich die Weise, ihr Bein anzuheben, indem ich meinen Arbeitseinsatz etwas erhöhte – ihr also Arbeit abnahm; oder – auch eine Variante – minimal die Richtung änderte, in der ich ihr Bein anhob. Jetzt konnte sie vergleichen (und ich auch). Auf diese Weise fühlte Frau Miller nach und nach die erhebliche Arbeit, die sie nicht nur in ihren Beinen, sondern auch in ihren Schultern, im Brustkorb und ihrem Nacken leistete, obwohl sie lediglich auf dem Rücken lag. Im Zuge des Vergleichens verringerte sich fast wie von selbst die Anstrengung in ihrer Muskulatur.

Als sie saß, bemerkte Frau Miller auf der Stelle, dass sie wieder besser sitzen konnte. Ihr Gewicht hatte sich ganz offenbar umverteilt. Nach wie vor konnte sie mit Leichtigkeit aufstehen. Aber sie sehnte jetzt das Ende der Schwangerschaft herbei. Sie schrieb mir, dass ihr die Hämorrhoide innerhalb weniger Tage keine Beschwerden mehr machte und sie sich bis zur Geburt gut bewegen konnte.

Nadine wurde am Anfang Januar 1998 geboren. Frau Miller schickte eine Geburtsanzeige. Die Geburt hätte sehr gut begonnen, wäre dann aber durch Personalwechsel in der Klinik durcheinander geraten. Es wäre dann alles zur Anwendung gekommen, was eine gute Klinik hätte. Nadine wäre gesund und munter. Frau Miller schrieb, sie machte jetzt wieder Feldenkrais, denn nach der Geburt hätte sie Probleme in der Brustwirbelsäule gehabt. Bei Feldenkrais-(Audio)Lektionen nähme sie ihre Längsachse als total verschoben wahr, aber nach und nach hätte sich ihre Wahrnehmung wieder den tatsächlichen Gegebenheiten angepasst. Und sie fügte hinzu: „Ich möchte mich noch einmal für die schönen Stunden bei Ihnen bedanken, die dazu beigetragen haben, meine Schwangerschaft leibhaftig zu erleben“.

Sechste Stunde (Mitte Juni 1998)

Ein halbes Jahr später nahm Frau Miller wieder eine Einzelstunde. Sie hatte Schmerzen im rechten Knie (das kannte sie seit ihrer Kindheit) und im linken Fuß. Wir verabredeten eine 90 Minuten Stunde statt der üblichen 60 Minuten, denn sie wollte mir Nadine vorstellen. Ich freute mich und war gespannt, Nadine nun auch zu sehen.

Nadine schlief, als Frau Miller in meiner Praxis eintraf. So konnten wir uns erst einmal unterhalten und ich dabei anfangen herauszufinden, wie sie jetzt ihre Bewegungen organisierte. Frau Miller schien sich jetzt mehr und verstärkt auf ihre linke Seite zu verlassen.

Nadine wachte auf und ließ sich Zeit damit. Frau Miller ging umsichtig und sicher mit ihrer Tochter um. Nadine war ganz reizend und besonders hübsch. Kaum hatte sich Frau Miller auf die Feldenkrais-Liege gelegt, fing Nadine an zu schreien. Also entschloss sich Frau Miller, Nadine erst einmal zu stillen. Mir wäre lieber gewesen, wenn Nadine noch eine Weile friedlich auf ihrer Babydecke geblieben wäre, so dass ich die Stunde mehr oder weniger wie sonst hätte fortsetzen können. Das war allerdings eine irrige Erwartung und ich brauchte die ganze Stunde um zu begreifen, dass Nadine jetzt weit mehr noch Teil der Stunde war als während Frau Millers Schwangerschaft. (Dies war für mich das erste Mal, dass eine junge Mutter ihr Baby in die Einzelstunde mitbrachte.)

Frau Miller lag auf dem Rücken mit angewinkelten Knien. Diese Lage kam mir so vor, als wenn jemand, läge er in dieser Weise genau umgekehrt, also auf dem Bauch statt auf dem Rücken, anfangen würde zu krabbeln. Meine Absicht war, diese Ausgangslage aufzugreifen und für die Stunde zu nutzen. In der Fachsprache heißt das, die Stunde entlang der Funktion des Krabbelns aufzubauen. Ich wollte mit ihr herauszufinden, inwieweit sich in dieser Lage die Bewegung ausgehend von ihren Beinen, über ihr Becken, die Wirbelsäule bis zum Kopf fortsetzen würde. Dabei erhoffte ich mir auch Aufschlüsse zu finden, wie sie ihr rechtes Knie überanstrengte. Aber das klappte nicht.

Als ich den Verlauf der Stunde nachträglich notierte und dabei die Stunde noch einmal an mir vorüber ziehen ließ, verstand ich, dass meine räumliche und soziale Orientierung von der ihren ganz verschieden gewesen war. Ich hatte die Situation, in der wir uns befanden, falsch eingeschätzt. Ich hätte aufgreifen sollen, womit Frau Miller ganz offensichtlich beschäftigt war: sich um ihr Baby zu kümmern, indem sie es stillte. Ich hätte die Stunde also aufbauen sollen entlang der Funktion des Stillens und mit ihr erkunden können, inwieweit sich Frau Miller hierbei in einer Weise organisierte, dass ihr rechtes Knie unter Druck kam. Stattdessen hatte ich das Geschehen zu sehr aus meiner Sicht wahrgenommen und dementsprechend die Stunde angelegt und obendrein Nadine eher als Gast denn als Beteiligte betrachtet.

Als Nadine schließlich gestillt war, spielte sie zufrieden auf ihrer Babydecke auf dem Boden. Nun war ich auch zufrieden; denn ich konnte die Stunde zu Ende bringen und mit Frau Miller einige kurze Erkundungen ausprobieren. Ich fühlte mich entlastet, dass Nadine uns hierbei nicht unterbrach. Ich lenkte Frau Millers Aufmerksamkeit wie in einer der vorherigen Stunden darauf, wie sie ihre Kopfbewegungen im Zusammenspiel mit ihrem Becken im Sitzen und Stehen ausführte. Frau Miller empfand jetzt deutlich die Wechselwirkung der Muskeln auf der Vorderseite – ihre Beuger – und der auf der Rückseite – ihre Strecker, wenn sie sich bückte, aufrichtete oder ihr Baby hoch hob. Das war für sie eine aufschlussreiche neue sensomotorische Erfahrung, die sie auch in ihr bisheriges Wissen als Ärztin einordnen und verstehen konnte. Sie nahm sich vor, diesen Bewegungszusammenhang in ihr tägliches Rückbildungsprogramm einzubauen.

Frau Miller und Nadine verließen die Praxis. Die Schmerzen im rechten Knie bestanden immer noch. Mein Eindruck war, dass ich Frau Millers Wünsche für die Stunde nur zur Hälfte entsprochen hatte und fragte mich wieder einmal: Worum geht es mir in den Stunden? Knieprobleme zu heilen? Oder biete ich ein Setting an, das der Person ermöglicht, sich selber besser lenken zu können, indem sie in der Stunde und entlang von Bewegungserfahrungen herausfindet, was sie mit sich und ihrem Knie macht?8

Siebte Stunde (zwei Wochen später, Juli 1998)

„Nach der letzten Stunde ging es dem Knie eher schlechter, tags drauf wieder besser, dann wieder schlechter und seit zwei Tagen sehr viel besser“, berichtete Frau Miller zwei Wochen später. Ich riet ihr, doch auch eine Diagnose stellen zu lassen. (Das tat sie: Chondropathia Patellae, eine Veränderung des Gelenkknorpels auf der Kniescheibe. Ihr Orthopäde empfahl ihr daraufhin, die vorderen Muskeln des Oberschenkels (quadriceps) zu trainieren, um die Kniescheibe zu entlasten.)

Dieses Mal war ich darauf vorbereitet, dass die Stunde von Anfang an in einem Setting zu Dritt stattfinden würde. Als die Beiden eintrafen, war Nadine wach, charmant, lebhaft. Neugierig schaute sie herum. Und sie war dieses Mal nicht hungrig. Wir setzten uns zu Dritt auf den Boden und bemerkten, dass es Nadine weit besser gefiel, auf derselben Ebene zu sein wie ihre Mutter und ich.

Frau Miller legte sich auf die linke Seite und ich begann, zu erkunden, wie sie ihren Rücken benutzte, wenn ich sie ein wenig nach rückwärts über ihre rechte Schulter bewegte. Dabei beobachtete ich, wie sich die Bewegung fortsetzte über ihre Hüftgelenke, den Zug in ihrem rechten Oberschenkel, zu ihrem rechten Knie bis zu ihren Füßen. Nebenbei schauten wir Nadine zu , wie sie ihre Ärmchen ausstreckte und sich vom Rücken auf die Seite rollte. „Nehmen wir doch Nadine als Modell“, schlug ich vor. Frau Miller ertastete das winzige Schulterblatt ihrer Tochter, ganz überrascht dessen Bewegung fühlen zu können. „Meine Güte – es bewegt sich, während Nadine sich umdreht!“ „Nun sind Sie dran“.

Ich leitete Frau Millers Bewegungen so, dass sie mitverfolgen und fühlten konnte, wie sie von der linken Seite nach rechts in Richtung Rückenlage und zurück in die Seitenlage und von hier nach links in Richtung Bauchlage gerollt wurde. Dabei ging es mir darum, dass sie herausfand, wie viel leichter sie auf dem Boden rollen konnte, wenn ihre Orientierung im Raum sich verbesserte und sie die Beteiligung ihre Beine beim Rollen mehr aus dem Rumpf erfolgend empfand denn als zusätzliche (Muskel-)Arbeit der Beine. Wir waren dabei so beschäftigt, dass wir auf Nadine als Modell gar nicht mehr geachtet hatten. „Schauen Sie mal zu Nadine“, sagte Frau Miller plötzlich, „sie hat sich zum ersten Mal in ihrem Leben auf den Bauch gerollt. Das hat sie ganz alleine geschafft!“ Nadine hatte bemerkt, dass irgendetwas Neues mit ihr geschehen war. Sie war so überrascht und stolz wie ihre Mama. Ich freute mich ebenfalls. Nun hatte sich also unsere nonverbale Zusammenarbeit zu Dritt doch noch eingestellt.

Ich beendete die Stunde wie das Mal zuvor: Frau Miller bemerkte, dass sie beim Sitzen, Gehen und beim Hochheben ihres Baby jetzt viel mehr in ihrer Vertikalen bleiben konnte, ihr Becken mehr benutzte, anstatt ihre Knie automatisch zu blockieren, was die Bewegung erschwerte, ohne dass ihr das zuvor bewusst gewesen war. Dieses Mal hatte ich die Wünsche für die Stunde besser berücksichtigt: Frau Miller hatte herausgefunden, wie sie etwas für sich als Mama und gleichzeitig auch etwas für ihr Knie tun konnte, es also gar nicht nötig war, auf das Knie fixiert zu bleiben. Nadine hatte die Aufmerksamkeit erhalten, die sie als Beteiligte einer Stunde zu Dritt der erwarten konnte, ohne allerdings den Ablauf der FI-Stunde zu bestimmen. Und ich war zufrieden mit mir, dass ich jetzt ohne großen Aufwand mit der Situation zu Dritt zurecht gekommen war.

Während Frau Miller Nadine stillte – das wollte sie vor der Rückfahrt getan haben – fragte ich sie, ob sie Interesse hätte, einen kleinen Bericht über die Einzelstunden zu schreiben. Ich säße gerade an meiner Bewerbung zur Assistenz-Trainerin und würde gerne eine Fallgeschichte aus zwei verschiedenen Sichtweisen einreichen. Frau Miller gefiel die Idee. Wir verabredeten, dass jede von uns ihre Erfahrungen zusammenfasste, wir diese Berichte dann austauschten und wechselseitig kommentierten. Damit könnten wir die unterschiedlichen Perspektiven in einer Geschichte zusammenfügen. Wie wir alsbald feststellten, ging es auch Frau Miller darum, die zwischenmenschliche (inter-subjektive) Grundlage dieser Arbeit zu beschreiben und damit die Bedeutung eines an der Person orientierten Zugangs, wie er in der Feldenkrais-Methode praktiziert wird: Stets ist die handelnde Person im Blick, ihre Absichten, ihre Sicht von sich, von Anderen und von der Welt, in der sie lebt, und tätig ist.

3. Die Geschichte – erzählt aus der Sicht der Klientin

Ich lernte die Feldenkrais-Methode durch Frau Dr. Pieper in einem Workshop „Bewusstheit durch Bewegung“ während der Lindauer Psychotherapiewochen 1996 kennen. Patienten hatten mich immer wieder zu dieser Methode befragt, ohne dass ich mich äußern konnte. Dies wollte ich ändern, eigene Erfahrung sammeln, Indikationen und Kontraindikationen kennen lernen um Hinweise geben zu können. Ich war überrascht, wie anders diese "Körperwahrnehmungsübungen" sind und wie effektiv.

Im Herbst 1997, damals in der 29. Schwangerschaftswoche, nahm ich wieder an einem Seminar "Bewusstheit durch Bewegung“ bei Frau Pieper teil. Diesmal hatte ich ein ganz anderes Interesse. Ich wollte wissen, wie sich für mich, mit meinem veränderten Körper, die Wahrnehmung ändert und wie es meinem Baby dabei gehen wird. Es war ein sehr lustvoller Tag für uns beide, wir kamen gut miteinander in Kontakt. Ich freute mich, wenn sie strampelte und genoss die Ruhepausen. Am Ende des Tages fühlte ich mich entspannt, erstaunlich leicht und beweglich. Ich war auch sehr froh, dass mir Frau Pieper glaubhaft versicherte, dass es aufgrund der Übungen, wenn sie sachgerecht erfolgen, zu keiner Frühgeburt kommen kann. Mich hat dies sehr entlastet.

Diese Vorerfahrungen motivierten mich, nun auch mal "Funktionale Integration zu Dritt" auszuprobieren; obgleich ich ein wenig Scheu vor der (körperlichen) Nähe in der Einzelsituation hatte. Mittlerweile war ich in der 31. Woche und schon recht stolz auf meinen Bauch. Das erschwerte die Suche nach meiner Mitte; Gleichgewicht herzustellen, Balance haben, war schon immer mein Thema. Dennoch fühlte ich mich sehr wohl und wenig bewegungseingeschränkt. Der Istwert war mein Sollwert; dass es leichter gehen könnte, war nicht in meinem Bewusstsein. Erst am Ende der Stunde, im vorher-nachher Vergleich spürte ich, um wie viel lockerer der Kopf auf dem Hals saß, wie viel freier die Schultern waren. Mein Gang war aufrechter und Nadine hatte mehr Platz im Bauch. Durch welche Übungen dies gelang, weiß ich nicht mehr. Was ich erinnere, war das genussvolle Erleben einer unaufdringlichen Nähe, die es mir ermöglichte, mich voll meiner Körperwahrnehmung hinzugeben. Die kleinen Bewegungen mit unendlich viel Zeit und den behutsamen Berührungen der Hände von Frau Pieper ließen mich Bewegungszusammenhänge in meinem Körper entdecken, von denen ich bestenfalls vorher kognitiv wusste.

Das Schönste und Faszinierendste aber war, dass ich meinem Baby im Bauch näher kam. Nadine hatte sehr bald "Lieblingsübungen", bei denen sie sich sehr geschmeidig, harmonisch und lustvoll im Bauch bewegte. Fast bin ich geneigt zu sagen, dass sie einen konditionierten Reflex entwickelte: nach den Übungen in Seitenlage, also die Hand von Frau Pieper im Rücken erspürend, tanzte Nadine in aller Regel vor Lust. Nadines Reaktionen waren auch der größte Anreiz für mich, Feldenkrais-Übungen zu Hause zu absolvieren. Es war einfach wunderbar, so gut im Kontakt sein zu können und danach auch noch entspannter und beweglicher zu sein.

Insgesamt waren es für mich sehr meditative Stunden. Die von Frau Pieper "assistierte Kommunikation" zwischen meinen verschiedenen Körperteilen und Nadine war für mich eine sehr beglückende neue Dimension. Ich fand in jeder Stunde meine Mitte (= Schwerpunkt) neu und lernte, die "dran und drin hängenden Teile" (= Baby und Extremitäten) leichter, mit einem größeren Freiheitsgrad zu bewegen. Sodass ich am Ende jeder Einheit leichter, größer und erhobenen Hauptes wieder in die Welt eintauchen konnte.

Funktionale Integration war für mich eine besondere Möglichkeit, Körperbewusstsein während der Schwangerschaft zu erweitern. Dass ich in dieser Zeit nie Rückenschmerzen verspürte, war sicherlich ein Effekt, aber von mir nicht bewusst intendiert. Lediglich in der letzten Stunde (= 37. Schwangerschaftswoche) bewegte ich mich wegen einer sehr schmerzhaften Analthrombose nur noch in Schonhaltung gekrümmt vorwärts und konnte nach meiner Lerneinheit bei Frau Pieper wieder aufrecht gehen − eine Verbesserung, auf die ich vorher nicht zu hoffen gewagt hatte. Besonders an den Tagen meiner Einzelstunden erhielt ich viele Rückmeldungen von Patienten, die erstaunt waren mit welcher Leichtigkeit und Geschmeidigkeit ich mich als "Kugel" noch bewegte; dann berichtete ich immer voller Begeisterung von meinen tollen Erfahrungen mit der Feldenkrais-Methode.

23 und 25 Wochen nach Nadines Geburt ging das Experiment „zu Dritt" in modifizierter Form weiter. Das Maß meiner Aufmerksamkeit war sicherlich gleich groß. Aber ein Fokus meiner Wahrnehmung war nicht mehr in mir, sondern neben mir. So war meine Körperwahrnehmung um den Faktor reduziert, der jetzt für Nadines Wohlbefinden notwendig war. Ein wunderschönes Erlebnis von „Symbiose in der Zweisamkeit" war, als Nadine erstmalig entdeckte, wie sie vom Rücken auf den Bauch kommt, während ich mit dieser Drehung experimentierte. Ab jetzt wird es wohl häufiger so sein, dass ich durch Beobachtung ihrer Bewegungen lernen kann, mehrere Muskelgruppen im Bewegungsmuster mitspielen zu lassen.

Zusammenfassung: Nach meiner Erfahrung ist die "Funktionale Integration" eine fantastische Methode, die Schwangerschaft lustvoll zu intensivieren. Das Wachstum einer Leibesfrucht ist ein dynamischer Prozess, der den Körper ständig verändert. Die Feldenkrais-Methode lehrt hinzuspüren, Unterschiede wahrzunehmen und neue Bewegungsmuster auszuprobieren. Gymnastikübungen können das nicht leisten. Außerdem ist die "Funktionale Integration" eine Möglichkeit, Beziehung zum Baby herzustellen und zu intensivieren bei gleichzeitiger körperlicher und psychischer Entlastung.

Diese Effekte können jedoch nur auf dem Boden einer guten therapeutischen oder pädagogischen Beziehung entstehen und integriert werden. Ohne Frau Piepers Klarheit und Kompetenz hätte ich mich nie auf das „Abenteuer FI in der Schwangerschaft“ eingelassen. Ohne ihre Verstärkung hätte ich mich nicht so über meine „Erfolge“ freuen können; und ohne ihre vielen kleinen praktischen Hinweise wäre es mir nicht so gut geglückt, FI in den Alltag zu integrieren. Ich habe in einer professionellen Beziehung noch nie eine so nahe und annehmende Atmosphäre gespürt, die so weniger Worte bedurfte. Frau Piepers Ruhe und Achtsamkeit, mit der sie viele meiner Bewegungen begleitet hat, waren für mich Modell, es doch auch mal so zu versuchen. So gesehen hatte ich in zweifacher Hinsicht die richtige Wahl getroffen: Sowohl mit der Feldenkrais-Methode, als auch mit Frau Dr. Pieper als Feldenkrais-Lehrerin, um meine Schwangerschaft leibhaftig zu genießen. (verfasst: Sommer 1998)

4. Aus zwei Geschichten entsteht eine

Barbara Pieper: Als ich Frau Millers Bericht las, war ich überrascht und amüsiert, denn Frau Miller hatte fast den gleichen Titel für die Geschichte gewählt wie ich.9 Hatten wir darüber gesprochen oder war das Zufall?

Ich war sehr angerührt davon, wie offen, warmherzig und genau Frau Miller über ihr inneres Erleben während der Stunden und deren Auswirkungen in ihrem Alltag berichtete. Zwar bemühe ich mich in meiner Arbeit darum – und habe das auch im Laufe der Zeit allmählich gelernt– herauszufinden, wie der Klient die Bewegungen empfindet, fühlt und darüber denkt, die ich ihm anbiete oder – ihn geleitend – ausführe oder mit ihm mache. Doch weiß ich sehr wohl, dass es eine Grenze gibt, die ich unbedingt respektiere in der Kommunikation mit einer anderen Person und ihrer inneren Welt: Ich erlebe einen anderen Menschen von außen, während er sich von innen her erlebt. Das ist und bleibt ein Unterschied im Erleben, in den Absichten und im Handeln von Personen. Ich fühlte mich außerordentlich beschenkt von Frau Miller, indem sie mir (und anderen) Einblick in ihre Innensicht gewährte.

Beim Lesen ihres Berichtes verstand ich noch einmal mehr, unter welch unterschiedlichen Voraussetzungen die Stunden in Funktionaler Integration zu Dritt stattgefunden hatten. Frau Miller war die ganze Zeit in einer, wie sie es ausdrückte „leibhaftigen“ ständigen Verbindung mit ihrem Kind. Ich betrachtete die Stunden als FI für sie und lernte erst allmählich, auch mit ihrem Baby in Kontakt zu kommen.10

 

Ich freute mich sehr zu lesen, dass Frau Miller die Ergebnisse der Stunden fast genauso beschrieb wie ich. Die Botschaft war also angekommen. Bei allen Unterschieden des Erlebens gibt es offenbar sehr wohl sichtbare und mitteilbare Ergebnisse! Und ich fühlte mich durch Frau Millers Bericht darin bestätigt, dass Lernprozesse eine Beziehung der Beteiligten voraussetzen, die getragen wird von Vertrauen, Respekt und Achtsamkeit innerhalb eines klar definierten Rahmens.

Und natürlich las ich mit Vergnügen ihre Wertschätzung der Feldenkrais-Methode. Immerhin schrieb sie hier als dreifache Expertin: als Mutter, als Ärztin und als Psychotherapeutin. Für sie ist Feldenkrais ein sehr geeignetes Verfahren, die Schwangerschaft zu erleben, zu genießen, zu lernen, sich bis zur Entbindung ungezwungen zu bewegen, die Situation nach der Geburt und überhaupt die permanenten dynamischen Wechselfälle im Leben zu bestehen.

Damit spricht sie den Kern der Feldenkrais-Methode an:

Bei der Feldenkrais-Methode handelt es sich (in meinem Verständnis) um ein Verfahren, das von seinem Begründer Moshé Feldenkrais (1904-1984) entwickelt worden ist, um Lernprozesse zu erleichtern und zu fördern. Hierbei schafft der Feldenkrais-Lehrer eine anregende Umgebung, in der der Klient über achtsam auszuführende Bewegungssequenzen sein Unterscheidungsvermögen verfeinern kann. Darüber wird es beiden, Klient und Feldenkrais-Lehrer, möglich, allmählich immer besser zu empfinden, zu fühlen und zu verstehen, wie des Klienten Selbstbild und Bewegungsorganisation sich in dessen alltäglichen Handlungen widerspiegeln11 . Handelt doch ein jeder Mensch dem Bild nach, das er sich von sich12 (und Anderen!) macht. Wachsendes Gewahr-Werden und Einsicht in das Selbstbild tragen dazu bei, sich müheloser in Raum und Zeit orientieren und zweckmäßiger bewegen zu können− zum Beispiel, indem der Klient selbst auferlegte Einschränkungen sensomotorisch als solche erlebt, erkennt und „spielend“ zu überwinden lernt. Solche Erfahrungen eröffnen dem Klienten Wege, seine Spielräume im Empfinden, Fühlen, Denken und Handeln über Bewegung auszuloten, zu nutzen oder zu erweitern. Allerdings interessieren Bewegungen im Rahmen der Feldenkrais-Methode nicht isoliert. Sie interessieren stets im Zusammenhang mit dem jeweiligen Handeln, in das die Bewegung eingebunden ist (= „Handlungsrelevanz von Bewegung“). Feldenkrais-Lehrer arbeiten mit einem Funktionsbegriff, der sich auf das absichtsvolle Handeln der Person bezieht13 . Der Akzent der Methode liegt gerade nicht im Bewegen oder bewusstem Bewegen, sondern umgekehrt: Bewegung dient als Mittel, um Bewusstheit im Tun (“awareness in action”) 14 zu praktizieren als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit und Entwicklung:

 

„Fortschritte begabter Menschen entstehen dadurch, dass sie sich ihrer selbst inne sind, während sie tun. Ihr Talent entspricht der Freiheit, ihre Verfahrensweisen zu wählen, ja man könnte beinah sagen, dass was wir Talent nennen, nichts anderes als diese Freiheit ist .(…).Das Gefühl, am Leben und lebendig zu sein, hängt zusammen mit der Bewusstheit des Selbstwerdens“ (Moshé Feldenkrais15 )

 

Karin Miller: Meine eigene "Fallgeschichte" zu lesen, hat mich sehr bewegt. Frau Pieper schildert die Stunden so detailliert, dass sie für mich wieder ganz nah sind. Deshalb bin ich auch sehr glücklich über dieses Dokument aus einer für mich doch ganz wichtigen und besonderen Zeit. Es ist verblüffend wie ihre und meine Geschichte erst gemeinsam das Ganze ergeben, so wie zwei Seiten einer Medaille (notiert: Sommer 1998)

 

5 “Wie weiß ich, wie ich arbeite?“ Fallgeschichten als Mittel reflektierter Praxis zur persönlichen und professionellen Weiterentwicklung (Nachbemerkung)16


Diese Einzelstunden in „Funktionaler Integration“ liegen inzwischen neun Jahre zurück. Die Klientin und ich blieben in losem Kontakt. Gelegentlich nahm Frau Miller an einem Samstags-Tageskurs teil oder gönnte sich in Zeiten großer Anstrengung einige Einzelstunden. Als ich ihr 2006 von dem Veröffentlichungsprojekt erzählte, fand sie sich gleich bereit, an der Überarbeitung des deutschen Textes mitzuwirken. Und sie war gespannt, wie sie wohl ihre eigene Geschichte aus ihrer heutigen Erfahrung betrachten würde.

Auch ich war neugierig auf den Rückblick. Wie würde ich meine eigene Arbeit nach so vielen Jahren finden? Würde ich einer Veröffentlichung überhaupt zustimmen mögen? Sollte ich die Geschichte nachträglich „frisieren“, um besser da zu stehen? Was immer „besser“ heißen mochte. Ich machte mich also unversehens beim Lesen der englischen Erstfassung zu meiner eigenen Beobachtungs- und Bewertungsinstanz. Das kenne ich zwar aus meiner Praxis. Denn ich beobachte mich während den ATM und FI-Stunden. Ich skizziere die Gruppenstunden nachträglich und protokolliere nach wie vor Einzelstunden – manche knapp, andere ausführlicher. Aber ich habe die FI-Aufzeichnungen bisher fast nie wieder hervorgeholt, um sie erneut zu lesen, erst recht nicht, um meine Arbeitsweise über die Zeit hin zu vergleichen, sondern allenfalls, wenn ein Klient nach längerer Zeit wieder auftauchte.

Eine Fallgeschichte, die einige Zeit zurückliegt, zur Veröffentlichung zu wählen, gibt mir die Gelegenheit, mich derselben Vorgehensweise zu bedienen, die mir aus den Feldenkrais-Stunden methodisch vertraut ist: Immer wieder wird im Verlauf einer Stunde ganz konkret Rückbezug genommen auf bereits gemachte Erfahrungen – zum Beispiel wie der Klient nach einigen Bewegungsexperimenten jetzt den Kontakt seiner Schultern zum Boden empfindet im Vergleich zum Beginn der Stunde; oder inwieweit er sich jetzt müheloser umdrehen kann als zuvor. Die Fallgeschichte ermöglichte mir, das vertraute „Abgleichen“ von Erfahrungen im „Vorher“ und „Nachher“ auf meine eigene Entwicklung als Feldenkrais-Lehrerin anzuwenden. Ich fing also an, mich beim Übersetzen und Bearbeiten der Fallgeschichte auch für Ähnlichkeiten und Unterschiede zu interessieren, wie ich mein Können und Vermögen damals erlebt, einschätzt und zur Sprache gebracht habe und es heute betrachte.

Beim Lesen meiner eigenen Notation, nunmehr aus der zeitlichen Distanz, fielen mir als erstes Ähnlichkeiten darin auf, wie ich auch heute noch arbeite. Ich erkannte mich in der Fallgeschichte wieder: zum Bespiel meine Freude darüber, wie es mir gelingt, mit Klienten Kontakt herzustellen; oder meine Findigkeit, in der Bewegungsorganisation des Klienten dessen Selbstbild zu erkennen als Orientierung für die Stunde und gleichzeitig als Möglichkeit für den Klienten (und für mich), sein Handeln nachvollziehen zu können, wie es ihm (und mir) über Bewegungen allmählich erfahrbar wird; mein Wissen, wie ich Bewegungsangebote entlang von Handlungsentwürfen, von Absichten, machen kann; wieso ich also bei Feldenkrais „funktional“ vorzugehen habe. Und schließlich erinnerte mich die Fallgeschichte daran, dass ich sorgfältig und abgewogen Sprache einsetzen kann im Prozess von „Bewusstheit im Handeln“, der in den Stunden stattfindet17 .

 

Im Rückblick war ich allerdings verwundert, wie sehr ich mich verschätzen konnte: dass ich diesem Arbeitsverständnis und Arbeitsvermögen durchaus nicht immer entsprochen habe. Wieso hatte ich Einzelstunden mit einer schwangeren Klientin nicht von vorne herein als ein Setting zu Dritt betrachtet? Oder: Wieso habe ich nicht gleich erkannt (in Stunde 6), dass ich hätte anknüpfen sollen an dem, was Frau Miller sowieso schon tat, ihr Baby zu stillen. Ich meinte zwar, „subjektorientiert“ arbeiten zu können – ausgehend vom Selbstbild der Klientin und „funktional“, also entlang eines Handlungsentwurfes, in den die Bewegungen eingebunden sind, die ich anbiete. Das war aber keineswegs immer der Fall. Wieso hatte ich das erst nachher beim Protokollieren bemerkt?

Die Beschäftigung mit der Geschichte hat mir verdeutlicht: Im Vergleich zu damals ist mir heute viel geläufiger, mich selber wahrzunehmen während ich Feldenkrais-Stunden gebe, d.h. ich brauche mir das nicht mehr eigens vorzunehmen. Und ich verstehe mein Handeln besser, wie es für mich im Rahmen einer bestimmten „Feldenkrais-Grundhaltung“ einen Sinn macht. Ich verstehe besser, was ich als das Spezifische und Wesentliche der Feldenkrais-Methode betrachte18 . Mir haben sich damit in den letzten Jahren Spielräume eröffnet, die mir jetzt bei meiner Arbeit zur Verfügung stehen. Das habe ich zwar vermutet, aber nicht wirklich „schwarz auf weiß“ gewusst. Sollte zum Beispiel in einer FI ein „Umsteuern“ nötig werden (wie in Stunde 6 der Geschichte), gestalte ich das inzwischen fließender und einfacher. Ich betrachte diese Veränderung als ein Zeichen verbesserter Qualität des Erlebens und Tuns entstanden aus Erfahrung und deren Reflektion. Heute dürfte ich andere „blinde Flecken“ haben als damals und werde weiter nach Mitteln suchen, wie ich diese entdecken kann.

Lese ich Feldenkrais-Fallgeschichten19 , lockt dies Vergleiche in mir hervor: wie hätte ich in der entsprechenden Situation gehandelt? Das empfinde ich als sehr anregend. Fallgeschichten selber zu schreiben, betrachte ich als eine besondere Herausforderung. Ich habe mich um eine Präzision in der Darstellung von Sachverhalten zu bemühen, die das gesprochene Wort nicht verlangt. Ich kann es im Sprechen noch korrigieren oder ergänzen. Beim Schreiben wird mein Denken deshalb weit mehr als beim Sprechen oder Lesen geschult, mir und Anderen meine Praxis und Erfahrung vermittelbar zu machen. Die eigene Fallgeschichte im Rückblick zu vergleichen ermöglichte mir, in einen Spiegel zu schauen und eigenes Können und Vermögen darin zu finden und Hinweise zu erhalten, was denn als Nächstes zu lernen ansteht; oder wie ich mir die Qualität meiner Arbeit und das Vergnügen, sie zu verrichten, in neun Jahren vorstelle.20

Zusammenfassung: Wie die meisten Menschen mag ich gerne Geschichten erzählen, hören oder lesen. Für mich enthalten Geschichten, je umfassender ich mich mit ihnen beschäftige, in die Tiefe gehende Ein-Sichten. Ob ich nun Fallgeschichten selber verfasse oder die Anderer lese: Fallgeschichten erlauben mir, mich selbst und die eigene Praxis aus einer Distanz heraus zu erkunden, so wie sich mir in Feldenkrais-Stunden immer wieder Gelegenheiten bieten zum Innehalten, um Unterschiede wahrzunehmen und Vergleiche anzustellen. Fallgeschichten zu schreiben und zu lesen ist für mich ein vorzügliches Mittel reflektierter Praxis, um die eigene persönliche und professionelle Weiterentwicklung über die Zeit hin zu verfolgen und in die Hand zu nehmen. Ich lerne dabei mich, Andere und die eigene Praxis besser zu verstehen. Das eigene Können wächst im selben Prozess mit.

 

Bibliographie

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Pieper, Barbara & Weise, Sylvia 1996: Feldenkrais. Aufgaben, Tätigkeiten, Entwicklung eines neuen Arbeitsfeldes. Herausgegeben von Karin Engels-Maurer und Christoph Görtz; Berufsbild, erstellt im Auftrag der Feldenkrais-Gilde e.V., Bibliothek der Feldenkrais-Gilde e.V. Nr. 12, vergriffen; online verfügbar auf der IFF Webseite unter Vocational Profile Germany http://feldenkrais-method.org/node/608 ; als PDF verfügbar auf der Webseite www.barbarapieper.de Menü Barbara Pieper/Veröffentlichungen

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13 Pieper, Barbara 2003: Zur Erweiterung von Handlungsspielräumen durch somatisches Lernen – Pädagogische Übergänge in der Feldenkrais Arbeit, in: Girmes, Renate & Korte, Petra (Hrsg.): Bildung und Bedingtheit oder: Ein erhöhter Verständigungsbedarf über nicht Selbstverständliches, Leske + Buderich, Opladen, S. 97 – 111, als PDF verfügbar auf der Webseite www.barbarapieper.de Menü Barbara Pieper/Veröffentlichungen

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Sacks, Oliver 1995: Eine Anthropologin auf dem Mars. Sieben paradoxe Geschichten, Rowohlt, Reinbek

Stern, Daniel 2006: Die Mutterschaftskonstellation. Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie, Klett Cotta, Stuttgart, 2. Auflage

Tomatis, Alfred 1994: Klangwelt Mutterleib. Die Anfänge der Kommunikation zwischen Mutter und Kind, München, Kösel

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Varela, Francisco J. 1996: Large Scale Integration in the Nervous System and Embodied Experience: Special Guest lecture at the 1. European Feldenkrais Conference 1.-5. June 1995 Heidelberg, in: Heidelberg Report, published by International Feldenkrais Federation (IFF) 1996, p. 12-15, online verfügbar auf der IFF Distribution Center Webseite: http://www.iffmaterials.com/onlinePubs/heidelberg.pdf

Walterspiel, Beatriz 2004: Das Abenteuer der Bewegung. Die Feldenkrais-Methode „Bewusstheit durch Bewegung“, 4 Audio CDs, Kösel,

Wurm, Franz 1968 : Nachbemerkung zu Moshé Feldenkrais, in: Feldenkrais 1968 (s.o.), S. 241-287

Anmerkungen zum Text

 1 Zur Entstehung: Die erste Version dieser Fallgeschichte hat Barbara Pieper 1998 in Englisch verfasst und als Teil ihrer schriftlichen Bewerbung (application) zur Feldenkrais Assistenz Trainerin im Januar 1999 eingereicht beim Europäischen Trainings Accreditation Board (Euro TAB). Karin Miller schrieb ihre Beiträge hierzu in Deutsch. Der Titel dieser Fassung hieß: “Conversation for Three: Feldenkrais Lessons with a Pregnant Woman”. Um den Text auch außerhalb des Bewerbungsprozesses verwenden zu können, hat Barbara Pieper die Feldenkrais Fachsprache umformuliert (=Version 2). Für die vorliegende Veröffentlichung (=Version 3) hat sie den Text 2006 ins Deutsche übersetzt und ihn dabei sprachlich überarbeitet. Hierbei hat sie vor allem die Sachverhalte angemessener beschrieben als im Englischen, da sie sich in ihrer Muttersprache präziser ausdrücken kann als in einer Fremdsprache. Karin Miller nahm in ihren Textpassagen kleinere redaktionelle Änderungen vor. Die Nachbemerkung (Teil 5) hat Barbara Pieper eigens für diese Veröffentlichung geschrieben. Beide Autorinnen haben sich über die vorliegende dritte Version ihrer Fallgeschichte vielfach besprochen, Entwürfe gegengelesen, so dass sie beide allen Teilen dieser Fassung zustimmen. Diese Fallgeschichte ist Dorothea, Julia und Anna gewidmet

2 Ausführlicher zur Notation von Einzelstunden vgl. Pieper 2007 (1999)

3 Mit der Zusammenführung der wechselseitigen Perspektiven von Klientin und Feldenkrais-Lehrerin ist die 1998 entstandene Fallgeschichte ein (dokumentierter) Vorläufer des Projekts PRISMA blau, das Daniel Clénin und ich im Rahmen der IFF Akademie (vgl. Fußnote 17) seit 2000 entwickelt haben. In diesem Projekt wird eine alltägliche Arbeitsituation in der Feldenkrais Praxis von drei (statt zwei) verschiedenen Akteuren wahrgenommen und zwar jeweils doppelt: der Klient nimmt sich selbst und seinen Feldenkrais-Lehrer wahr; dieser nimmt sich und seinen Klienten wahr und ein Beobachter nimmt den Klienten und den Feldenkrais-Lehrer wahr. Alle drei schreiben ihre Eindrücke auf kleine Zettel auf. Diese 6 Aussagen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung der drei Akteure, zusammengefügt in einer Matrix, ergeben ein sechsfaches prismatisches Bild auf ein und dieselbe Praxis. Über diese 6 Perspektiven der lassen sich Prozesse reflektierter Praxis entwickeln, wie sie in den Workshops des PRISMA blau Projekts seit 2001 stattfinden und dokumentiert sind. Vgl. dazu Clénin und Pieper 2007; Kontakt zu PRISMA Workshops: mail [at] barbarapieper [dot] de

4 Literatur zum subjektorientierten Ansatz im Kontext von Feldenkrais: Ginsburg 2005, Pieper 1997, Varela 1996

5 Walterspiel 2004

6 Franziskus Rohmert ist Feldenkrais Lehrer in Passau. Seine Anschrift findet sich im Internet unter www.feldenkrais.de link Mitgliederadressen

7 Tomatis 1994

8 Franz Wurm äußert sich eindeutig zur Frage ob Feldenkrais Lernen oder Heilen sei: „Die ganze Prozedur stellt eine Umerziehung (...) dar und keine Behandlung. Das muss so sein, denn es geht dabei um Lehren und Lernen und nicht um Krankheit und Heilung“ (Wurm 1968. S. :255); vgl. zu dieser Frage auch Pieper 1993.

9 Die Ähnlichkeit in der Titelwahl bezieht sich auf die englische Erstfassung. Für diese Veröffentlichung haben die Autorinnen einen anderen Titel gewählt.

10Daniel Stern hat in seinem Buch „Die Mutterschaftskonstellation“ beschrieben und erläutert, wie sich das therapeutische Setting in dem Augenblick ändert, in dem die Klientin/Patientin Mutter wird. TherapeutInnen hätten oft Mühe, sich darauf einzustellen (Stern 2006).

11Feldenkrais 1968, S. 31 ff

12Feldenkrais 1968, S. 19

13vgl. auch Pieper/Weise 1996, vor allem S. 2 ,7 und 15. Der im Rahmen der Feldenkrais Methode verwendete, auf Handeln bezogene Funktionsbegriff unterscheidet sich demnach von dem in der Medizin gebräuchlichen. In der Medizin bezieht sich Funktion in der Regel auf die Arbeitsweise einzelner Gelenke oder Organe. Eine subjektorientierte Sichtweise in der Medizin finden sich in den Fallgeschichten von Oliver Sacks: Er stellt seine neurologischen Geschichten unter das (William Osler zugeschriebene) Motto „Frage nicht, welche Krankheit die Person hat, sondern welche Person die Krankheit hat“ (Sacks 1995, S. 9 )

14Feldenkrais 1966, S. 8. Die Bezeichnung „Bewusstheit durch Bewegung“ verkürzt den Sachverhalt, den das nachfolgende Zitat beschreibt. Es geht weder um bewusstes Gehen, noch um Bewusstheit durch Gehen; sondern es geht um Bewusstheit darüber, wie ich mich beobachte, w ä h r e n d ich gehe. (Vgl. dazu Feldenkrais 1987, insbes. S. 138-143). Das ist keine Wortspielerei. Der Fokus liegt auf der Person, wie sie handelnd sich selbst dabei beobachtet. zutreffender, wenn auch umständlicher, wäre also: „Bewusstheit durch Selbstwahrnehmung während der Aktion“.

15Feldenkrais 1987, S. 140

16Diese Nachbemerkung habe ich auch deshalb schreiben mögen, weil ich seit 2000 an einem Projekt der International Feldenkrais Federation (IFF) zur Frage von Qualität und Kompetenz in der Anwendung der Feldenkrais Methode mitarbeite. Reflektion der eigenen Praxis und Entwicklung ist zentraler Bestandteil des Projektes. Damit stellten sich mir Querverbindungen her zu dieser Fallgeschichte, die ich gerne aufgreifen wollte: Die IFF hat 2001 eine Akademie gegründet www.feldenkrais-method.org/node/254, in der Feldenkrais Practitioner u.a. ein Kompetenz-Profil für sich erstellt haben http://www.feldenkrais.com/profession/iff_professional_competency_profile/ . In der IFF Akademie werden von und für Feldenkrais Practitioner Konzepte professioneller Weiterbildung erarbeiten, im Team Workshops entwickelt, durchgeführt, ausgewertet und KollegInnen zur Verfügung gestellt, die ebenfalls an einer feldenkrais spezifischen Weiterentwicklung ihrer Professionalität als Practitioner interessiert sind.);

17Feldenkrais 1966, S. 8 („Awareness in action“); vgl. auch Anmerkung 15

18vgl. dazu Pieper 2001 und 2003

19Fallgeschichte; oder Carl Ginsburgs Schilderung über die Fortschritte seines Klienten Jeff (Ginsburg 2004);oder die 29 Fallstudien aus aller Welt, die die International Feldenkrais Federation bereits 1996 und 1997 zusammengestellt hat (IFF 1996 &1997) oder Fallgeschichten, wie sie regelmäßig in der Fachzeitschrift „feldenkrais zeit Journal für somatisches Lernen“ veröffentlicht werden. Link: http://feldenkraiszeit.org/

20Das IFF Akademie Kompetenz Profil Projekt (siehe Fußnote 17) hat Falldarstellungen einbezogen, um Kompetenzen von Feldenkrais Lehrer/innen aus der Praxis heraus zusammenzustellen. Dabei wird ein Feldenkrais-Lehrer gebeten, sich eine Schlüsselsituation zu vergegenwärtigen, wie er sie in seiner Praxis erlebt hat; diese zu schildern und sich dann zu überlegen, wie er die gleiche Situation einige Zeit vorher bewältigt hätte oder in der Zukunft mit mehr Erfahrung bewältigen werde. Aus dem Unterschied zwischen „Vorher“ und „Nachher“ (= delta) lassen sich Rückschlüsse ziehen auf das inzwischen erworbenen oder in Zukunft erwartete professionelle Können der Feldenkrais-Lehrer/innen. Das Vorgehen heißt „Schlüsselsituations Methode“ (Key Situation Methodology oder Critical Incident Technique“): Link auf der Webseite der IFF Akademie: www.feldenkrais-method.org/node/165 Weiterführende Literatur Twelker 2003

 

Kontakt:

Barbara Pieper, Dr. rer. pol., Sozialwissenschaftlerin, Feldenkrais-Praktizierende, eigene Praxis in Gräfelfing bei München; Feldenkrais Assistenz-Trainerin; mail [at] barbarapieper [dot] de ; www.barbarapieper.de und www.somatische-bildung.de

Karin Miller, Dr. med., ist Ärztin und Psychotherapeutin in eigener Praxis. Sie wohnt mit ihrer Familie in Oberbayern auf dem Land. Ihr Name wurde für diese Veröffentlichung geändert, um Vertraulichkeit für die Klientin zu wahren. Kontakt über B. Pieper

Copyright © Barbara Pieper & Karin Miller, März 2007/Januar 2009

 

 

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